[Ende Sept 1823/Anf Okt 1823?]
146
Eckermann über seine Beziehungen zu Goethe (Tewes 253f)5:
[ QuZ Nr. II-146: Im Jahre 1823. kam ich nach Weimar. Nicht um diese Stadt zu meinem Wohnort zu wählen, sondern bloß um einen Besuch bei 78Goethe zu machen und dann in mein Vaterland zurückzukehren. – Es schien aber von dem Lenker meines Lebens anders beschlossen zu seyn.
Goethes Persönlichkeit übte auf mich eine so anziehende Gewalt aus, daß ich seinem Wunsche hier zu bleiben und an seiner literarischen Thätigkeit Theil zu nehmen, nicht widerstehen konnte. Er war damals im Begriff eine um 20 Bände vermehrte neue Ausgabe seiner Werke herauszugeben. Vom 2ten Theile des Faust waren erst wenige Fragmente vorhanden, vom 4. Bande von Wahrheit und Dichtung nur das Schema und nur sehr wenig Ausgeführtes. Dagegen führte er mich an einen Haufen starker Convolute von allerlei Manuscripten. Sie sehen hier, sagte er, eine Masse ungeordneter, theils auch nicht ganz vollendeter Gedichte, Xenien, Aphorismen, so wie Packete von Aufsätzen und Abhandlungen über die verschiedenartigsten Erscheinungen deutscher und ausländischer Literatur, Gegenstände der Kunst, und alle Zweige der Naturwissenschaft worin ich ein halbes Leben mich bemüht habe. – Unter allen diesen Papieren das Brauchbare vom Unbrauchbaren zu sondern, das Problematische und nicht ganz Vollendete mit mir zu besprechen, das entschieden Fertige abschreiben zu lassen, und alles nach inneren Bezügen nach und nach zu ordnen und zu Bänden zusammenzustellen ist eine Arbeit die eine Jahrelange Thätigkeit in Anspruch nehmen wird. – Wollte ich mich selbst damit befassen, so würde ich bei meinem hohen Alter weiter nichts thun können. Wollten Sie aber mir diese Arbeit abnehmen, so wäre ich eine große Last und Sorge los und ich könnte mich mit allen noch übrigen Kräften auf die Hervorbringung von neuen Dingen wenden, und vor allen den Faust und Wahrheit und Dichtung fertig machen.“
Ich war damals in meinem dreißigsten Jahre. Meine erste Schrift: Beiträge zur Poesie war soeben im Cottaschen Verlag erschienen1 und erlebte das Glück einer rühmlichen Anerkennung in allen ersten literarischen Blättern. Ich war voll von neuen schriftstellerischen Vorsätzen, ich fühlte in mir Trieb und Kraft mich nach allen Seiten hin zu versuchen und mir einen Namen zu machen; allein ich unterdrückte meine liebsten Wünsche, indem ich mir 79sagte, daß wenn ich Goethe durch die Übernahme jener Arbeiten frei mache und in den Stand setze noch viel Großes hervorzubringen, ich nicht allein die letzten Lebensjahre des hohen Mannes verschönern, sondern auch der deutschen Literatur einen größeren Dienst leisten würde, als durch eigene Arbeit.
Ich willigte also in Goethes Vorschläge und übernahm die Reinigung und Zusammenstellung seiner gedachten Papiere, welches Geschäft, einige Pausen abgerechnet, meine Thätigkeit während sechs Jahre in Anspruch nahm.
Die Liebe zu meiner Heimath und ein sehnliches Verlangen dahin zurückzukehren war indeß oft zu nicht geringer Qual in mir lebendig gewesen, allein ich suchte mich zu beschwichtigen, indem ich die Überzeugung in mir weckte, daß ich hier in besonderem Grade nützlich sey, und ich tröstete mich mit dem Wahlspruch: Wo ich wirke ist mein Vaterland. ]