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26. Lavater an Goethe.

[Zürich, Mitte September 1774.]

[ Zeugnis Nr. 9: Auch Dank für dein Briefchen. Diese Woche hatt’ ich mit den Prinzeßinnen von Homburg u. Darmstadt – und dem überaus liebenswürdigen Landgrafen Freüde. Ich sahe sie in Kleinjoggs stube u. communicirte ihnen sein Brod – Prinzeßin Louise – wahrlich eine große Seele! – Ich hätte sie küßen mögen!

Hier die Originalbriefe, den Wunderthäter betreffend: so oft ichs lese, muß ich weinen. Ich untersuche nicht für mich, sondern für die Schwachglaübigen – wer hier nicht untersuchen will, u. sich Christ nennt, u. doch nicht durchs Gefühl glaubt, was ist der? Ich weiß es nicht.

Die Briefe schikst du, nein, bringst du der Klettenbergerinn – sie sendet mir’s, durch Fink in Stuttgard bäldest zurück. – Ich habe nun noch an den Prälaten zu Salmersschweil, u. dem Gaßner selber wieder geschrieben. Dann muß, wenn er mir nicht näher kömmt, Paßavant mit mir hin – anzubethen in Schauender Kinder Einfalt.

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Du – ich appellire immer an dich; denn einen so harmonischen MitEmpfinder der Natur hab’ ich doch noch nicht gefunden – du, ich weiß es, hältst den in deiner Seele für unsinnig, der nach dem Lesen dieser 4. Original Briefe nicht – Wahrheit Gottes drinn fühlt.

O Baßedow, wenn Goethe dieß dir vorlieset, so mögt’ ich mit Petrus oder Paullus Blick in die tiefste Tiefe deines Herzens schauen, ob dir der Funke Gottes in dir nicht aufglühen, Gottes Stimme nicht sagen wird – „Ich streite wider Gott – wenn ich hier nicht anbethe.“

Ob das Ding wegen Grebel in den Journal gedruckt werde, ist mir an sich ziemlich gleich – aber – aber! Meine Herrn werden denken, ich habe sie zum beßten; denn förmlicher Auftrag ists doch, so was (und dies hat der Präses der Censur gelesen u. gebilligt) drucken zulaßen. Setze dich genau in meine Situation u. entscheide, oder schreib mir einen zeigbaren umständlichen Brief, den der Präses lesen muß. – Der geradeste Weg aber wär, es laufen zulaßen.

Du hast den Wunderthäter auch gesehen? Sprich – auch ein einziges mal, eine Viertelstunde.

Menschengesicht ist mir mehr als alle Erzählungen u. Urkunden – drum will ich den Mann sehen.

Sage Baßedown, daß wir nun die nächste Woche 40zusammen kommen, ihm zuschreiben. Herders Philosophie soll er mir schleünigst senden.

Dank, daß du meiner allweg gedenkst. Es ist mächtiges Zutrauen in dich, daß ich – am Ende der Perspektife auf die Erbärmlichkeiten, die du an mir wahrgenommen haben mußt – noch an dich schreiben kann.

Und die III. Epistel an Timotheus? Arme Seele – Aber! schone meiner!

Klopstok – nun, ich gönn’ ihn Schloßern mehr, wie dir – u. doch – ich schweige – Herr Jesus, wie viel lieber bist du mir, deiner Natürlichkeit, deiner Unschriftstellerhaftigkeit wegen, als der liebste, bewunderteste aller meiner LieblingsSchriftsteller – Freund Baßedow, Fritz Jacobi ist gewiß auch in der Gnadenwahl wie Klettenbergin sagt.

Werther durch Fink über die Post – u. Faust – ein par Stellen draus – u. dann Billiets von meinem Weibchen – u. von mir. Adieü. ]