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1827, 24. September.

Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuhren wir ab; der Morgen war sehr schön. Die Straße geht anfänglich bergan, und da wir in der Natur nichts zu betrachten fanden, so sprach Goethe von literarischen Dingen. Ein bekannter deutscher Dichter [Streckfuß?] war dieser Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen sein Stammbuch gegeben. »Was darin für schwaches Zeug steht, glauben Sie nicht,« sagte Goethe. »Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazareth. Alle sprechen sie von den Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits, und unzufrieden wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, 211 um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustande zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller ächten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemüthlich und poetisch zu Sinne.

Ich habe ein gutes Wort gefunden,« fuhr Goethe fort, »um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazareth-Poesie nennen, dagegen die ächt tyrtäische diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Muth ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.«

Goethes Worte erhielten meine ganze Zustimmung.

Im Wagen zu unsern Füßen lag ein aus Binsen geflochtener Korb mit zwei Handgriffen, der meine Aufmerksamkeit erregte. »Ich habe ihn,« sagte Goethe, »aus Marienbad mitgebracht, wo man solche Körbe in allen Größen hat, und ich bin so an ihn gewöhnt, daß ich nicht reisen kann, ohne ihn bei mir zu führen. Sie sehen, wenn er leer ist, legt er sich zusammen und nimmt wenig Raum ein; gefüllt dehnt er sich nach allen Seiten aus und faßt mehr als man denken sollte. Er ist weich und biegsam, und dabei so zähe und stark, daß man die schwersten Sachen darin fortbringen kann.«

»Er sieht sehr malerisch und sogar antik aus,« sagte ich.

»Sie haben recht,« sagte Goethe, »er kommt der Antike nahe, denn er ist nicht allein so vernünftig und 212 zweckmäßig als möglich, sondern er hat auch dabei die einfachste, gefälligste Form, sodaß man also sagen kann: er steht auf dem höchsten Punkt der Vollendung. Auf meinen mineralogischen Excursionen in den böhmischen Gebirgen ist er mir besonders zu statten gekommen. Jetzt enthält er unser Frühstück. Hätte ich einen Hammer mit, so möchte es auch heute nicht an Gelegenheit fehlen, hin und wieder ein Stückchen abzuschlagen und ihn mit Steinen gefüllt zurückzubringen.«

Wir waren auf die Höhe gekommen und hatten die freie Aussicht auf die Hügel, hinter denen Berka liegt. Ein wenig links sahen wir in das Thal, das nach Hetschburg führt und wo auf der andern Seite der Ilm ein Berg vorliegt, der uns seine Schattenseite zukehrte und wegen der vorschwebenden Dünste des Ilmthals meinen Augen blau erschien. Ich blickte durch mein Glas auf dieselbige Stelle, und das Blau verringerte sich auffallend. Ich machte Goethen diese Bemerkung. »Da sieht man doch,« sagte ich, »wie auch bei den rein objectiven Farben das Subject eine große Rolle spielt. Ein schwaches Auge befördert die Trübe, dagegen ein geschärftes treibt sie fort oder macht sie wenigstens geringer.«

»Ihre Bemerkung ist vollkommen richtig,« sagte Goethe; »durch ein gutes Fernrohr kann man sogar das Blau der fernsten Gebirge verschwinden machen. Ja, das Subject ist bei allen Erscheinungen wichtiger als man denkt. Schon Wieland wußte dieses sehr gut, 213 denn er pflegte gewöhnlich zu sagen: Man könnte die Leute wohl amusiren, wenn sie nur amusabel wären.« Wir lachten über den heitern Geist dieser Worte.

Wir waren indes das kleine Thal hinabgefahren, wo die Straße über eine hölzerne mit einem Dach überbaute Brücke geht, unter welcher das nach Hetschburg hinabfließende Regenwetter sich ein Bette gebildet hat, das jetzt trocken lag. Chausseearbeiter waren beschäftigt, an den Seiten der Brücke einige aus röthlichem Sandstein gehauene Steine zu errichten, die Goethes Aufmerksamkeit auf sich zogen. Etwa eine Wurfsweite über die Brücke hinaus, wo die Straße sich sacht an den Hügel hinanhebt, der den Reisenden von Berka trennt, ließ Goethe halten. »Wir wollen hier ein wenig aussteigen,« sagte er, »und sehen, ob ein kleines Frühstück in freier Luft uns schmecken wird.« Wir stiegen aus und sahen uns um. Der Bediente breitete eine Serviette über einen viereckigen Steinhaufen, wie sie an den Chausseen zu liegen pflegen, und holte aus dem Wagen den aus Binsen geflochtenen Korb, aus welchem er neben frischen Semmeln gebratene Rebhühner und sauere Gurken auftischte. Goethe schnitt ein Rebhuhn durch und gab mir die eine Hälfte. Ich aß indem ich stand und herumging; Goethe hatte sich dabei auf die Ecke eines Steinhaufens gesetzt. Die Kälte der Steine, woran noch der nächtliche Thau hängt, kann ihm unmöglich gut sein, dachte ich und machte eine Besorgniß bemerklich; 214 Goethe aber versicherte, daß es ihm durch aus nicht schade, wodurch ich mich denn beruhigt fühlte und es als ein neues Zeichen ansah, wie kräftig er sich in seinem Innern empfinden müsse. Der Bediente hatte indes auch eine Flasche Wein aus dem Wagen geholt, wovon er uns einschenkte. »Unser Freund Schütze,« sagte Goethe, »hat nicht unrecht, wenn er jede Woche eine Ausflucht aufs Land macht; wir wollen ihn uns zum Muster nehmen, und wenn das Wetter sich nur einigermaßen hält, so soll dies auch unsere letzte Partie nicht gewesen sein.« Ich freute mich dieser Versicherung.

Ich verlebte darauf mit Goethe, theils in Berka, theils in Tonndorf, einen höchst merkwürdigen Tag. Er war in den geistreichsten Mittheilungen unerschöpflich; auch [ Gräf Nr. 1532: über den zweiten Theil des ›Faust‹, woran er damals ernstlich zu arbeiten anfing, äußerte er viele Gedanken, ] und ich bedauere deshalb um so mehr, daß in meinem Tagebuche sich nichts weiter notirt findet als diese Einleitung.