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12. Humboldt an Caroline

Erfurt, den 19. November 1808

[ Biedermann-Herwig Nr. 2832: Ich komme eben von Weimar, liebe Li, wo ich bei Wolzogens gewohnt habe. Theodor kommt erst in einigen Stunden mit der Präsidentin Recke. Er führt sich sehr artig auf. Seine Schönheit macht auch diesseits der Alpen einen großen Eindruck.

Die Wolzogen grüßt Dich unendlich. Sie ist wohl, heiter, lebendiger und interessanter als leicht je sonst, nur freilich beinah 21recht arg das Gegenteil von hübsch. Sie und ihr Mann machen im buchstäblichen Verstande einen häuslichen Kreis.

Der arme Wolzogen selbst ist in einem ängstlichen Gesundheitszustande; man hört, und stark, jeden Odemzug und oft leidet er so, daß man ihn dem Ersticken nah glaubt. Die Li hat diesen Sommer eine Tragödie angefangen, die sie mir, wenn ich einmal ruhiger dort bin, zeigen wird.

Goethe war äußerst freundschaftlich und herzlich gegen mich, aber sonst in keiner guten Stimmung in den beiden Tagen. Er hat unendliche Trakasserien wegen des Theaters, und was wirklich schrecklich ist, so war ihm gerade, als ich da war, vom Hofe erklärt worden, er solle zwar die Theaterdirektion behalten, aber sich nicht mehr darum bekümmern, was ihn sehr verdroß. Goethe hat eine lange Unterredung mit dem französischen Kaiser gehabt, von der er sehr voll ist. Schlicht historisches Erzählen ist, weißt Du, seine Sache nicht. Aber Werthers Leiden und die französische Bühne sind die Hauptgegenstände der Unterhaltung gewesen. In Werthers Leiden hat der Kaiser eine Stelle getadelt, die, nach Goethes Versicherung, allen übrigen Lesern entgangen ist. Es ist, sagt Goethe, [die Stelle selbst wollte er nicht anzeigen] eine, wo er die wahre Geschichte und die Fiktion aneinander genäht hat, wo er die Verbindung mit großer Kunst gemacht zu haben glaubt, wo indes der Kaiser doch etwas Spielendes bemerkt hat. Das französische Theater soll der Kaiser unglaublich genau von Vers zu Vers kennen und nicht so unbedingt verehren. Vorzüglich streng soll er in der Beurteilung der Konsequenz der Charaktere und in der Gegeneinanderhaltung der historischen und poetischen Motive sein. Am meisten aufgefallen ist Goethe an ihm, daß er, auch in poetischen und literarischen Dingen nie etwas getadelt hat, ohne gleich zu sagen, was an die Stelle gesetzt werden müßte; wirklich ist auch bei Dingen, wo es auf Handeln ankommt, nichts so desolant, als 22wenn man nur immer anzugeben weiß, was nicht recht ist. Unendlich weh tut es einem, daß Goethe nicht wegen des fremden Einflusses, sondern wegen des inneren Unwesens an allem literarischen Heil in Deutschland verzweifelt. Jeder, sagt er, will für sich stehn, jeder drängt sich mit seinem Individuum hervor, keiner will sich an eine Form, eine Technik anschließen, alle verlieren sich im Vagen, und die das tun sind wirklich große und entschiedene Talente, aus denen aber eben darum schlechterdings nichts werden kann. Er versichert darum, daß er sich nicht mehr um andere bekümmern, sondern nur seinen Gang gehen wolle, und treibt es so weit, daß er versichert, der beste Rat, der zu geben sei, sei die Deutschen, wie die Juden, in alle Welt zu zerstreuen, nur auswärts seien sie noch erträglich. Ich habe ihm gesagt, daß ich für mich das schon angefangen habe, und daß er nur zu uns kommen dürfe, um es auch an seinem Teil zu vollenden. Seinen Faust hatte ich hier, noch ehe ich nach Weimar ging, gelesen. Er hat vier an niemand gerichtete Zueignungsstrophen, die ich Dir, weil sie in der Tat wunderschön sind, in Abschrift zuschicke. Darauf kommt ein Vorspiel und ein Prolog. In diesem unterhalten sich die Erzengel, Gott der Vater und Mephistopheles, der die Szene mit den Worten beschließt:

Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern,
Und hüte mich, mit ihm zu brechen,
Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.

Dann folgt das Stück. In diesem sind nicht bloß hinten Szenen angehängt, sondern auch in der Mitte eingeschaltet, wie z. B. die, welche er uns vorlas. Ausgelassen ist, soviel ich ohne Vergleichung bemerkt habe, nichts. Es sind himmlische neue Szenen, vor allem die letzte, wo Gretchen als Kindermörderin im Kerker sitzt, Faust sie mit Mephistopheles zu retten kommt, sie aber solche Hilfe aus 23schlägt, durch eine Stimme von oben von der Verdammnis gerettet wird, Mephisto aber mit Faust abfährt. Gegen das Ende ist eine Blocksbergszene und ein Marionettenspiel daselbst, die füglich hätten wegbleiben können, wo wieder die Xenien, Nicolai und sogar Tegel vorkommen.

Vorgestern abend, als wir bei Goethe waren, las er uns eine Art Märchen vor. Aber leider fielen Caroline und mir gar sehr die Ausgewanderten dabei ein. Es ist eine der Kompositionen, die nur zum Ausruhen bestimmt sein können. Vieles von dem Neuen im Faust ist uralt. Die letzte Szene ist 30 Jahre alt, aber es hatte nie ein Sterblicher sie gesehn. Goethe hat noch mehr Szenen, die ein andermal werden eingeschaltet werden. ]

Fernow*)*) Karl Ludwig Fernow, geb. 1763, † 1808, zuletzt herzoglicher Bibliothekar in Weimar. War von 1794–1803 in Rom. Er war mit einer Römerin verheiratet gewesen, die 1807 gestorben war. ist in einem schrecklichen Zustand. Ich fand ihn auf dem Bett sitzen, und Du würdest erschrecken, wenn Du ihn sähest. Sein graues, starres Haar ganz gesträubt und sein Gesicht geschwollen und fratzenhaft verzerrt. Dabei sichtbaren Kampf mit ewigen Beschwerden und oft schreckliche Schmerzen. Seinem Tode sieht er natürlich in nicht langer Zeit entgegen. Er ist aber von einem bewunderungswürdigen Mut und sogar einer großen Heiterkeit, und spricht mit größester Ruhe von seinem Tod, seinen Freunden in Rom und literarischen Gegenständen. Sein ganzes Unglück leitet er davon her, daß er Rom verlassen hat und sagt, daß er schlechterdings wieder hingehen würde, wenn sein Übel es erlaubte, und sieht nun die gänzliche Unmöglichkeit für nun und immer vor Augen. Seine Frau ist vor einem Jahr gestorben. Sie hat das traurigste Schicksal gehabt. Sie war ganz fremd in Deutschland geblieben und auch der Mann hatte sie sozusagen verlassen, da er den ganzen Tag 24bei einer Madame Schopenhauer*)*) Johanna Schopenhauer, die später „Fernows Leben“ herausgab. war, bei der er auch jetzt wohnt, und die eine von den Damen sein soll, die alle Wissenschaften schlingen wollen. Durch eben diese ist indes seine äußere Lage noch ganz leidlich.

Adolph**)**) Caroline v. Wolzogens Sohn. und Schillers Kinder sind, wie Du denken kannst, liebe Li, sehr herangewachsen. Sie haben mir auch nicht übel gefallen. Nur haben sie doch eine Pagen- und Bereiter-Tournüre, die ich Theodor nicht wünschte. Adolf soll, wie Theodor, keine Lust zum Lernen haben und das Lateinische so verabscheuen, daß er oft verwünscht, daß es je Römer gegeben hat. Schillers Ernst wird am meisten gelobt.

Mit inniger und unverbrüchlicher Liebe ewig Dein H.